Vivace Series 2005-2006

Reine Formen sind Bilder des Denkens

Jourdan Arpelles Vivace-Serie, 2005-2006

Alexandra Anderson-Spivy

Bevor die Künstlerin Jo Baer in den Siebziger Jahren ihre unvergesslichen weißen Bilder mit schwarzem Rand schuf, fragte sie sich: „Ist es möglich, ein lebendiges Gemälde zu schaffen, dass nicht abhängig ist von Illusionismus, Inhalt oder der Qualität der künstlerischen Handschrift, sondern das von seiner eigenen Architektur, seiner eigenen physischen Struktur lebt, ohne die Grenzen zur Skulptur zu überschreiten?”
Mit „Vivace,“ einer Serie von Arbeiten, die sie zwischen 2005 und 2006 vollendet hat, stellt sich Jourdan Arpelle der von Jo Baer dreißig Jahre zuvor beschriebenen Herausforderung. Arpelles jüngste Gemälde repräsentieren eine Weiterentwicklung der visuellen Denkrichtung der Künstlerin. Die „Vivace“-Bilder greifen die fortdauernden Fragen gestenloser, geometrischer Abstraktion auf, die früher leidenschaftliche künstlerische Diskussionen hervorgerufen hatten: worin liegt die Beziehung zwischen Bildrand und –fläche, zwischen Farbe und Komposition, Flächigkeit gegenüber Volumen, Dynamik versus Ruhe und die objekthaftigkeit des Gemäldes im Gegensatz zum Streben nach realistischer Darstellung?
„Vivace“ ist die Anweisung an einen Musiker ein Stück „lebhaft“ zu spielen. Im Allgemeinen steht der Begriff auch für „rasch, munter, aktiv, heiter.“ Und natürlich ist die Herkunft dieses musikalischen Begriffs das lateinische Wort für Leben – daher „lebhaft, lebendig.“ Die Künstlerin sieht die schwarzen und weißen Bereiche in den „Vivace“-Bildern ähnlich wie den Generalbass eines Streich-Quartetts oder Quintetts. Der Bass gibt den resonanten, grundlegenden Rhythmus vor, der immer vorhanden ist, während die Farben, analog zu den klaren Sopranstimmen der Violinen sich über diesen permanenten Gleichschritt emporschwingen und ineinander greifen.
Der Titel der Malereien steht nicht nur für das immer vorhandene Interesse der Künstlerin an dem Vorgang der Übertragung von musikalischen Strukturen in die bildende Kunst, er offenbart auch ihren Glauben an die Lebensbejahende Kraft der Kunst. Die Verwendung des Kreuzes verweist auf Assoziationen früher Symbolschriften. Arpelle arbeitet kontinuierlich daran, die Kruzifix-Form, die bereits seit der Verwendung von Orthogonalen in ihren frühen monochromatischen Skulpturen ein Bestandteil ihrer Arbeiten war, weiterzuentwickeln. Es findet sich auch in den konstruktivistischen Gemälden von Piet Mondrian, Ilya Bolotovsky ebenso wie in Agnes Martins jüngsten, poetischen Gitter-Kompositionen – diese drei Modernen beziehungsweise zeitgenössischen Künstler gehören zu denen, die das Gitter als abstraktestes kompositionelles Mittel betrachten. Mondrians Spätwerk hatte einen starken Einfluss auf Arpelles Denkweise. Seine Kompositionen aus sich kreuzenden schwarzen Linien schaffen einen optischen Effekt der bisweilen als „blaues Flimmern“ beschrieben wird. Die Netzhaut nimmt jede Linienkreuzung als Quadrat war, das blau vibriert. Dieser Netzhauteindruck erscheint am stärksten in „Broadway Boogie Woogie,“ seiner Hommage an den Amerikanischen Jazz von 1942/43. Nun lässt sich feststellen, das Jourdan Arpelle in ihren aktuellen Werken Mondrians Rezept umkehrt. In den „Vivace“-Bildern verwendet sie Farbe an den Rändern, schwarz und weiß jedoch im Kern der Arbeiten. Darüber hinaus hat Arpelle in den „Vivace“-Gemälden ihre konstruktivistisch orientierte visuelle Syntax weiter verfeinert und belebt. Die Werke stehen für einen ehrgeizigen intellektuellen Schritt nach vorn, der es ihr ermöglicht hat, durch die Verwendung von schwarzen und weißen Passagen und Farbkontrasten einen ganz bestimmten, sehr subtilen optischen Effekt auf der Netzhaut hervorzurufen.
Optimismus, Lebendigkeit und eine hoch entwickelte Technik durchdringen diese Leinwände in einer Art und Weise, die das zunehmende Selbstbewusstsein der Künstlerin in ihrer Verwendung von Farbe als strukturellem Mittel widerspiegeln.
Die „Vivace“-Serie besteht aus zwei unterschiedlichen Teilen. Der erste Teil besteht aus 24 kleineren Leinwänden (etwa 50 Zentimeter im Quadrat, ungerahmt, mit Rahmen ca. 54 Zentimeter). Der zweite Teil, „Vivace Molto,“ setzt sich aus sieben größeren Leinwänden zusammen: zwei Paare und drei Einzelarbeiten, deren Dimensionen von 165 Zentimeter mal 115 Zentimeter bis hin zu 200 Zentimeter mal 95 Zentimeter (gerahmt) variieren. Metallrahmen mit schwarzer Schattenfuge sind eine weiterer integraler Bestandteil in der überzeugenden Präsentation der Gemälde.
Ein wichtiger Indikator für die prospektive Beurteilung der Arbeiten eines Künstlers ist, ob eine kontinuierliche Weiterentwicklung kohärenter Ideen den Werken zugrunde liegt, auch wenn der Stil sich ändert. Dazu gehört auch das Durchhaltevermögen eines Künstlers und die Lust am Eingehen von Risiken. Oft sind große Durchbrüche in der Kunst nur auf konsequente, fortwährende und entschlossene Experimente zurückzuführen.
Arpelles 2005 entstandene kleinformatige „Vivace“-Bilder entwickelten sich aus frühen Farbstudien, in denen sie sich mit einem spezifischen kompositionellen Vokabular auf der Basis von Farben, die sich auf ein genaues Studium von Matisse beziehen, auseinandersetzt. Sein Gemälde „Die Klavierstunde“ bleibt ein zentraler Bestandteil ihres Denkens. Die meisten dieser Studien hat sie zerstört. Als Grundlage eines Experiments blieb eine Leinwand erhalten. Die Farbränder, inspiriert von den Farbwechseln in „Die Klavierstunde“ blieben erhalten. Arpelle grundierte den Mittelteil der Arbeit neu, schmirgelte ihn glatt und übermalte ihn mit großzügigen schwarz-weißen Formen auf der Grundlage eines Gitters. Dieses zufällige Experiment bildete die Basis für die „Vivace“-Serie. Für Arpelle ist schwarz eine „skulpturale Farbe“ ebenso wie die visuelle Entsprechung des unbekannten. Die nicht-achsial schwarzen und weißen Rechtecke die nun den Hauptteil der Komposition einnehmen entwickelten sich aus den Orthogonalen der frühen „Black X,“ „Geist“ und „Divertimenti“-Bilder. Aus den Kreuzungslinien sind nun stark kontrastierende Flächen geworden. Die so entstehenden Formen verleihen Arpelles neuen Bildern eine dynamische Stärke die aus der Spannung der durch die Gegenüberstellung von Schwarz und Weiß inhärenten optischen Vibrationen – hell und dunkel – entsteht. Die Kreuzungspunkte der Formen lassen ein visuellen Knistern entstehen. Die synkopierten grafischen Rhythmen und Vektoren schaffen durch die sich erweiternden und zusammenziehenden Orthogonalen eine lebendige Kraft und Geschwindigkeit innerhalb der abstrakten Kompositionen. Die Farbkontraste die an den Rand der Leinwand gewandert geben nunmehr dem Gemälde halt, während die starken schwarz-weißen Mittelteile die visuelle Energie ausmachen. Die schwarzen Bereiche verwenden horizontale Pinselstriche in einem seidenmatten Lack, während die weißen Teile eine matte Oberfläche haben, wodurch zusätzliche Texturkontraste entstehen.
Während die 24 kleinformatigen „Vivace“-Leinwände als eigene Gemälde für sich selbst sprechen, sind sie den großformatigen Werke vorausgegangen uns gaben der Künstlerin den Antrieb zu hochformatigeren und breiteren Malereien, die ehrgeizigere Formatkombinationen erfordern. Die großen, wie die kleineren Bilder, schöpfen aus optischen Netzhauteffekten. Sie schwingen mit dem Widerhall der auf der Netzhaut eingeprägten, durch den Schwarz-weiß Kontrast entstandenen Bilder, ebenso wie der farblichen Fassung der Ränder und Ecken. Diese Randbereiche sind häufig um das Doppelte und Dreifache erweitert, um den potenziellen Effekt der Farbvibration durch sorgsam ausgewählte Farbkombinationen die einen Simultankontrast bilden noch zu erhöhen. Fast immer erreicht ein drittes strukturelles Element, die farbigen Eckpunkte – zumeist der kleinste Farbereich der Gemälde – durch die Zusammenführung aller anderen Elemente eine besonders starke Frequenz. Die Interaktion der Farben im Zusammenspiel der Kontraste aus Schwarz und Weiß belebt jedes Detail der Gesamtkomposition. Im Licht scheinen die weißen Flächen sich über ihre Grenzen hinaus zu erweitern so dass ein Lichtkranz entsteht, der wiederum die benachbarten Farbfelder beeinflusst. In der Gegenüberstellung mit Weiß beginnen die Farben zu leuchten. Die schwarzen Bereiche gewinnen hingegen an Tiefe und Farbschwere durch die angrenzenden Farbfelder und ihre Nachbarschaft mit weißen Flächen. Die Wissenschaft der Optik beschreibt diesen Effekt als „Negativ der zweiten Ableitung.“ Dieser Ausdruck beschreibt die komplexe Reaktion der Netzhaut (welche Wahrnehmungsbedingt und nicht allein physisch ist) auf die optimalen Kontraste bestimmter benachbarter Farben. Im Wesentlichen bedeutet dies, dass, wenn eine Farbe sowohl einen schwarzen wie einen weißen Bereich berührt, die schwarze Seite viel schwärzer, die weiße Seite wesentlich weißer erscheint. Genau wie bei Jo Baers Gemälden, wird das Licht sowohl vom schwarzen als auch vom weißen Bereich des Bildes in die Farblinie geführt. Die Farbrahmung und die Kontraste bei Arpelle sind geradezu fluoreszierend. Die nach ihrer ursprünglichen Auseinandersetzung mit Matisse neu angewandte und verstärkte Farbe lässt jedes einzelne Bild zusätzlich pulsieren, um einen lebendigen Gegenpart zum Rhythmus der schwarzen und weißen Flächenstruktur zu geben. In den breiten Randbereichen und -ecken kontrastiert Arpelle geschickt Rot, Orange, Pink und die verschiedensten Gelbtöne mit Hellblau, Türkis, Himmelblau, Grellgrün und Grasgrün. Dieser Tanz der Vibrationen, oder, wie der Meister der höchst subtilen Weißtöne, der amerikanische Maler Robert Irwin es beschreibt, das „Summen“ des Bildes, das durch die Farbkontraste an den Ecken entsteht, interagiert rund um die Gesamtkomposition jeder Leinwand.
In den sieben „Vivace Molto“-Bildern strukturiert die Künstlerin jede Leinwand durch einen monochromatischen Bogen, der die visuelle Vibration innerhalb der dichten Abstufungen des Spektrums erhöht. Die gewagten geometrischen Formen treffen in einer komprimierten Art und Weise aufeinander, um den optischen Effekt zu intensivieren. Die Arbeiten sind zwar großformatig und intim. Ihr Format und die Komposition dominieren den Raum. Und dennoch sind es die kleinen Farbdetails an den Rändern und in den Eckpunkten die den Betrachter anziehen. Das Detail der Ecken sprühen vor Überraschungen und belebt den Gesamtraum des Bildes. Die Großformate schlagen aber auch eine visuelle Brücke über die Grenzen zwischen Malerei und Skulptur hinaus. Im wesentlichen wirken die größeren Formen wie eine Masse und verweisen so indirekt auf Richard Serras frühe, lehnenden Stahlplatten und Tony Smiths massiv schwarzen Minimalskulpturen der sechziger Jahre. Sie sind durchaus auch eine Referenz an Arpelles frühe Reihe schwarzer Skulpturen, „Abstract Symbols.“
Die „Vivace Molto“-Paare (Nummer 26 und 27 sowie 28 und 29) lassen angrenzende Farben kollidieren, während die Bilder zwar kompositionell miteinander verbunden, in getrennten Rahmen nebeneinander hängen. Hier nimmt die Künstlerin noch einmal auf die Paarungen, die sie in ihren „Double Cross“-Skulpturen beschäftigten Bezug. Jetzt sind die Paare jedoch Malerei. Jeder Teil ist eine vollständige und unabhängige Einheit, die durch sein Gegenüber erweitert und verstärkt wird. So sind die Paarungen auch eine Metapher für Beziehungen, die auf der Idee der Bewahrung des eigenen Selbst in Verbindung mit dem eines Anderen basieren.
“Vivace Molto # 30” strahlt eine überwältigen Ruhe aus, die von der leicht angeschrägten, massiven schwarzen Form, die das Bild dominiert, ausgeht. Die Randbereiche zeichnen sich aus durch Rosatöne mit starkem Rot und Grellorange als Gegenpol. Eine grüne und drei blaugrüne Ecken vermitteln Spektralfarb-Variationen.
„Vivace Molto # 25” ist eine ganz wesentliche Erweiterung von Ideen, die zuerst in den kleineren „Vivace“-Bildern untersucht worden sind. Drei Seiten der quadratischen Komposition werden von zwei kühlen Blautönen und einem Grün neben einem Orange als Komplementärkontrast zu Blau ausbalanciert. Das Grün wird belebt durch zwei deutlich unterscheidbare Rottöne, die den grünen Rahmen beleben während sie Bezüge über die gesamte Leinwand hinweg entwickeln, die das Gesamtbild lebendig machen. Durch diese komplexen Farbstrukturen und die methodische wie systematische Klarheit ihrer Arbeiten gibt Arpelle der klassischen geometrischen Abstraktion neue Spannung. Keine ganz leichte Aufgabe. Wie der Kritiker Clement Greenberg, ein Vorreiter des Formalismus, in seinem 1961 in seinem Buch „Kunst und Kultur“ veröffentlichten Essay „Avantgarde und Kitsch“ beobachtet hat:

„Dadurch, dass er seine Aufmerksamkeit von einem Motiv allgemeiner Erfahrung abwendet, lenkt ein Dichter oder Künstler diese Aufmerksamkeit auf das Medium seiner eigenen Kunstform. Wenn das nicht-gegenständliche oder „Abstrakte“ ästhetischen Wert haben soll, kann es nicht zufällig oder beliebig sein, sondern muss sich der wertvollen Zurückhaltung und Originalität verpflichten. Diese Zurückhaltung kann, sofern man sich der Welt gewöhnlicher, extrovertierter Erfahrungen versagt, ausschließlich in den Vorgängen und Disziplinen in denen Kunst und Literatur bereits die frühere (extrovertierte Erfahrung) imitiert haben selbst gefunden werden. Diese (Vorgänge) werden so zum Gegenstand von Kunst und Literatur.“

Daraus resultieren im Falle von Jourdan Arpelles „Vivace“-Serie Gemälde mit bemerkenswerter formaler Variationsbreite, subtilen Effekten und von einer Schönheit, die trotz aller Zurückhaltung einen emotionalen Eindruck machen. Diese Bilder belohnen den Betrachter mit einem ganzheitlichen Gefühl, das erzeugt wird durch eine bestimmte Feinheit in Proportion und Ausführung, die uns daran erinnert, dass puristische Abstraktion nach wie vor als Träger für echte und befriedigende künstlerische Polemik dienen kann.

Alexandra Anderson-Spivy ist Journalistin und Kunstkritikerin in New York und schreibt über zeitgenössische Kunst und Fotografie. Sie war Chefredakteurin bei Art & Antiques und US-Vorsitzende der International Association of Art Critics (AICA).

Übersetzer: Marcel Krenz ist Kunsthistoriker, Journalist und Consultant und lebt und arbeitet in Köln.